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Wisst Ihr, was mich stört? Dass in Theatern immer zu schnell das Licht wieder angemacht wird, wenn das Stück zu Ende ist. Für Menschen wie mich ist das wirklich ein Problem, denn… ich bin nah am Wasser gebaut. Ja, ich gebe es zu. Ich weine im Theater. Ich weine auch im Kino und bei besonders rührenden Werbefilmen, so bin ich nun mal. Und wenn dann das Licht zu früh wieder angeht und alle in enthusiastischen Applaus ausbrechen, dann bin ich noch dabei, nach einem Taschentuch zu nesteln, um meine Tränen zu verstecken. Also, liebe Theater der Welt, für Weichherzen wie mich, bitte lasst uns doch noch einen Moment Dunkelheit, wenn Tony gerade gestorben ist. Danke.

Zurück zum eigentlichen Thema. Gestern Abend durfte ich endlich, endlich auch die grandiose Barrie Kosky Variante von West Side Story sehen. Für mich das erste Mal, dass ich die Story live sehe anstatt den Musicalfilm von 1961. Und es war einfach großartig! Zur Story selbst muss man ja eigentlich nichts mehr sagen, ich glaube, die ist hinlänglich bekannt, beziehungsweise zumindest die Geschichte auf der sie beruht. Statt Verona geht es hier um New York und statt zweier Familien, die im Clinch liegen, sind hier zwei Jugendgangs im ständigen Kampf: die amerikanischen Jets und die Sharks, die aus Einwandererkindern aus Puerto Rico bestehen. Tony, der früher zu den Jets gehörte, hat mittlerweile einen Job und versucht etwas Besseres aus sich zu machen. Maria, die Schwester des Sharks-Anführers Bernardo, ist gerade erst aus Puerto Rico angekommen und träumt ebenfalls von einem besseren Leben. Als die beiden jungen Leute aufeinander treffen, ist es Liebe auf den ersten Blick. Sie versuchen, ihre jeweilige Herkunft zu vergessen und einen Weg für sich zu finden, aber ihre Liebe ist von Anfang an zum Scheitern verurteilt.

Obwohl die Gangkämpfe männerdominiert sind und Frauen dort nichts verloren haben, ist Barrie Koskys West Side Story voller starker Frauen. Zuallererst natürlich Maria, die von Alma Sadé gespielt wird. Die durfte ich in der letzten Zeit bereits als zauberhafte Dorothy in Der Zauberer von Oz sehen und als willensstarke Hodel, eine der drei Töchter in Anatevka. Beide Male war sie wunderbar und auch als fröhliche Maria, die sich so unsterblichen in den schönen Tony verliebt und die in dem für sie ganz neuen Land nur glücklich werden will, ist sie wieder absolut überzeugend. Aber Anita, gespielt von der grandiosen Sigalit Feig, ist nochmal  ein ganz anderer Kaliber!  Im Gegensatz zu der süßen Maria ist sie wild und rassig, mutig und entschlossen, sexy, aber auch verletzlich. Ihre Version von “America”, in der sie zusammen mit den Shark Girls über die Vorteile und Nachteile des neuen Lebens in den USA spricht, ist unbestreitbar das absolute Highlight des Musicals!

Aber natürlich sind auch die Jet-Jungs und die rebellischen und tätowierten Sharks nicht zu verachten, die in eindrucksvollen Tanz-Kampfszenen aufeinander treffen. Tolle Musik, großartige Stimmen, Tony (Johannes Dunz) und Maria (Alma Sadé) passen wunderbar zueinander, sowohl vom Aussehen her als auch von den Stimmen, sie harmonieren wunderbar und am Ende, hach, am Ende leidet man so sehr mit den beiden unglücklich Liebenden mit. Tragische Liebe vom Allerfeinsten, nicht verpassen, Barrie Koskys wunderbare West Side Story in der Komischen Oper Berlin. Vielleicht lassen sie ja beim nächsten Mal das Licht ein weniger länger aus.

©Nicole Haarhoff  Beitragsbild: Iko Freese