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Eine Familie – Osage County – Tracy Letts
Ich habe gelesen, “Eine Familie” (Osage County im Original) von Tracy Letts wird besonders gern zu Weihnachten aufgeführt und angesehen. Weil da überall die großen Familienzusammenkünfte anstehen und wenn man völlig genervt von der schwatzhaften Oma oder dem bierseeligen Onkel ist, was ist dann schöner, als sich anzuschauen, dass es bei anderen noch viel schlimmer ist? Genau wie es die Dropkick Murphys in ihrem einen, einzigen Weihnachtslied singen: “You think yours is crazy? Well, you should see mine!”
Johnna, eine junge Chayenne-Indianerin, ist bei einem Vorstellungsgespräch für eine Haushälterinnenposition. Wenn sie wüsste, wovon sie später in diesem Haus noch stille Zeugin werden wird, würde sie dann wohl schnell Reißaus nehmen? Der Auftritt der Hausherrin Violet (Corinna Kirchhoff) gibt ihr auf jeden Fall einen ersten Einblick: Vollkommen neben der Spur torkelt sie herein, versprüht Zigarettengestank und verbales Gift. Hausherr Beverly Weston (Wolfgang Michael), mit dem Johnna das Gespräch führt, reagiert lakonisch.
Nur wenige Tage später gibt es helle Aufregung im Hause Weston: Beverly ist verschwunden. Verzweifelt lässt Violet ihre Tochter Ivy (Bettina Hoppe) ihre restliche Familie benachrichtigen, damit sie ihr in dieser schweren Stunde beistehen. Violets Schwester Mattie Fae (Josefin Platt) eilt heran, mit Ehemann Charlie (Martin Rentzsch), auf Krawall gebürstet und bereit, alle Schuld auf Beverly abzuwälzen. Sie und Ivy sind die einzigen, die sowieso in der Nähe wohnen. Tochter Barbara (Constanze Becker) dagegen kommt extra mit Ehemann (Oliver Kraushaar) und Tochter (C.P. Zichner) aus Boulder, Colorado angereist, um ihrer Mutter zur Seite zu stehen. Kaum sind sie da, merkt man, warum sie sich so selten sehen: Violet, obwohl vom Krebs zerfressen und durch ihre Tablettensucht kaum zurechnungsfähig, hat eine scharfe Beobachtungsgabe und eine noch schärfere Zunge. Niemand ist vor ihr sicher. Blitzschnell erkennt sie die Risse in der Ehefassade von Tochter Barbara und hackt zielsicher darauf ein.
Auch das Auffinden von Beverly Weston Leiche ändert nichts daran, dass diese Familie sich hingebungsvoll gegenseitig zerfleischt. Bei Beverlys Beerdigung kochen die Gefühle so richtig über – Abhängigkeit, Alkoholkonsum, Ehebruch, sexuelle Übergriffe, sogar Inzest, es gibt nichts, was es nicht gibt und die Familienmitglieder, allen voran die bittere und bösartige Violet und die ihr so ähnliche Barbara schenken sich nichts. Am Ende kann es nur Verzweiflung geben. Und zurück bleibt diejenige, mit der es auch angefangen hat: Johnna (Katrin Hauptmann).
Ein echtes Schlachtfest, von den Ensemblemitgliedern mit Verve vorgetragen. Vor allem Corinna Kirchhoff als giftspuckende Viper Violet ist grandios, wunderschön schwankt sie in ihren zartgemusterten Tagesmäntel, die um ihre zarte Gestalt schweben, über die Bühne, Zigarette in der einen Hand, Pillendose in der anderen, als Wahrheit verkleidete Gehässigkeiten auf den Lippen. Aber auch alle anderen Ensemblemitglieder gehen ganz auf in diesen so unterschiedlichen Rollen: die still-verzweifelte Ivy (ganz groß: Betinna Hoppe) die schluckt und schluckt, bis sie einfach nicht mehr kann. Oder die linkische Tochter von Barbara, die unter der Trennung der Eltern so leidet – C.P. Zichner spielt sie wunderbar teeniemäßig linkisch und röhrt gleichzeitig auch den Soundtrack.
Für mich war das mittlerweile die dritte Aufführung von “Eine Familie” die ich gesehen habe, aber auch die Beste! Leider war es die letzte Vorstellung, ich bin froh, sie gerade noch erwischt zu haben!
©Nicole Haarhoff ©Bild: Birgit Hupfeld, Berliner Ensemble
